„Ob ich mich noch an diesen Satz erinnere?“. Ich lache einfach los. „Natürlich!“. Du nickst zufrieden und schenkst unsere Gläser nochmal nach. Meines reichst Du mir lächelnd und wir prosten uns zu. Ich lasse mich in die Lehne zurück fallen und sehe Dich an. Schweigend. Denn zu sagen, dass die letzten 33 Jahre spurlos an Dir vorbei gegangen sind, wäre gelogen. Das sind sie an mir auch nicht. Zum Glück nicht. Und doch ist das der Gedanke, der mich gerade in seinen Bann zieht. Finde ich es gut, dass sich so vieles an Dir tatsächlich nicht verändert hat? So rein gefühlsmäßig natürlich. Ob es tatsächlich so ist, lässt sich nach so kurzer Zeit nun wirklich nicht sagen.
Du siehst mich ruhig an und Dein „Du hast Dich kaum verändert“ lässt mich erneut loslachen. „Ja, sowas ähnliches dachte ich auch gerade“ gebe ich zurück und lege den Kopf schief. „Haben wir uns damals eigentlich auch angelogen?“. Jetzt lachst Du los und prompt ist sie wieder da: Diese Vertrautheit, die sich in mehr als drei Jahrzehnten tatsächlich nicht verändert hat. Dieses Funkeln in den Augen, wenn wir uns anlachen. Ein Funkeln, das auch bei ernsten Gedanken nicht verschwindet, wenn wir uns ansehen. Es tut gut, Dich zu sehen. Deine Stimme zu hören. Zu wissen, dass ich noch immer Teil Deiner Gedanken bin. Genauso, wie ich nie aufgehört habe, an Dich zu denken.
Wir waren gegenseitig unsere ersten Lieben. Das verbindet. Ich höre noch, wie Du damals sagtest „Ich möchte einmal irgendwas ganz Großes für Dich tun. Etwas ganz Wichtiges, damit Du mich nie wieder vergisst!“. Wir standen in dem Park hinter der Schule, in dem wir uns auch zum ersten Mal geküsst haben. Dieses Wichtige hast Du mehrfach für mich getan. Genauso wie ich angeblich für Dich. Doch keiner von uns könnte auch nur ein Beispiel dafür nennen, ohne dass der Andere sofort widersprechen würde. Es war einfach so. Unter Freunden passiert sowas, ohne dass man es aufrechnet. Ohne dass es eine Rolle spielt. Es ist selbstverständlich. Wenn ich Dir sagen würde, dass Du für mich der „Mensch für die Insel“ bist, wärst Du vermutlich der Einzige, dem ich diesen Satz nicht zu erklären bräuchte. Du würdest ihn einfach so verstehen und wortlos nicken.
Damals waren wir in unseren Lebensvorstellungen so unterschiedlich, dass es unpassender gar nicht hätte erscheinen können. Du der Wilde und ich die Brave. Doch im Grunde unserer Herzen waren wir uns viel näher, als es von außen den Anschein erweckte. Eben nur für uns, nicht zur Demonstration nach außen. Was uns verband konnten die wenigsten verstehen. Die Freundeskreise waren es auf gar keinen Fall. Aber auch das spielte keine Rolle. Wir rechtfertigten es nicht, sondern lebten es einfach. Die ersten Versuche, uns auch körperlich näher zu kommen, waren so grandios gescheitert, dass wir noch heute darüber lachen. Einiges haben wir vor ein paar Jahren korrigiert, als wir uns völlig unerwartet über den Weg liefen.
Das war wirklich ein seltsames Wiedersehen. Was wir als erstes feststellten war, dass das Leben tatsächlich verdrehter manchmal nicht sein kann. Ich, die damals so brave, war Single. Gerade geschieden und kinderlos. Du, der damals so wilde, warst verheiratet und hattest zwei Kinder. Zwar in Scheidung lebend aber dennoch. Würden wir unsere ehemaligen Klassenkameraden fragen, welche Rolle sie wem zuschreiben würden, wäre das Ergebnis bestimmt genau anders herum. Nur dass sie Dir die Scheidung nicht geglaubt hätten, weil dem eine Ehe vorausgehen müsste, die Dir sicher niemand zugetraut hätte. Ich auch nicht. Darauf hätte ich seinerzeit Wetten abgeschlossen. Wie man sich irren kann … Und das ich, einmal verheiratet, mich jemals scheiden lassen würde, hätte vermutlich auch niemand geglaubt.
Du füllst erneut unsere Gläser und Deine Augen blitzen mich an. Ich fühle was Du denkst. Und dass ich das Gleiche will, brauche ich nicht auszusprechen. Es versteht sich von selbst. Wie so einiges zwischen uns. Dass wir vieles, was damals nicht so geklappt hat, wie wir uns das vorstellten, inzwischen fast bis zur Perfektion treiben, liegt wohl in der Natur der Sache. Damals waren wir Kinder. Egal wie erwachsen wir uns fühlten. Heute sind wir erwachsen und gerade das Kindliche, was wir beide uns bewahrt haben, treibt uns zu Höhenflügen, die wir selbst damals nie und nimmer für möglich gehalten hätten, geschweige denn hätten erleben können. Heute leben wir es und es könnte schöner, aufregender und harmonischer nicht sein. Ich flüstere nur „Komm!“ und nehme Dein Gesicht in meine Hände. „Ja, lass uns barfuß durch’s Feuer gehen!“.
© skriptum 02/2008
Wow, was für eine Geschichte. Beim Lesen sah ich die Beiden vor mir sitzen, spürte die Harmonie, aber auch das Feuer, welches in ihnen brennt.
Freut mich, dass dieses Gefühl so „rüber gekommen“ ist, liebe Babbeline, dankeschön! ☼
Schön, sehr schön!
Vertrautheit, die echte, die vergeht auch nicht nach Jahren, und auch nicht wenn man diese Jahre nicht zusammen verbringt.
Das stimmt, ja. Wenn erst eine solche Vertrautheit existiert, dann braucht es keine ständigen Wiedersehen oder Telefonate. Sobald sich jedoch eines davon ergibt, ist sie wieder da, „als wenn es gestern gewesen wäre“ … ;o)
Da stimme ich dir zu!
Nicht nur für Liebespaare anzuwenden, ich kenne das auch von Freundschaften.
Geistige Musen oder so…. ;-)
Ich glaube, eine Liebe funktioniert nur, wenn ihr eine ehrliche Freundschaft voran geht oder sie zumindest Schritt für Schritt begleitet.
Fire burns :)
Indeed!
Vermutlich würde eine Begegnung mit meiner ersten Liebe ähnlich ablaufen.
Wunderschön geschrieben.
Dankeschön, liebe Ute, freut mich! ☼
das liest sich ja gut, ist das Wirklichkeit, guten Sonntag, Klaus
Wirklichkeit ja. Den Text habe ich jedoch bereits vor fünf Jahren geschrieben.
Wenn eine Verbundenheit über Jahrzehnte andauert und das gegenseitige Nehmen und Geben so uneigennützig und selbstverständlich ist, ist das mehr, als so manche Ehe bieten kann.
Eine wunderbare Geschichte, liebe Skriptum – chapeau!
LG Anna-Lena
Das ist wohl so, oh ja, liebe Anna-Lena. Und bei mittlerweile fast 40 Jahren „kommt da schon was zusammen“. ;o)
Schön, dass Dir die Geschichte gefällt, das freut mich, danke! ☺
Wenn man mit geschlossenen Augen lesen könnte hätte ich’s getan …. zum träumen und nachdenken. Einfach schön …..
LG
Wolfgang
Wow, was für ein schönes Kompliment! Danke, lieber Wolfgang! ☼
Die Glut, irgendwo im Inneren aufbewahrt, leises Glimmen, unbemerkt, bereit, einen Feuersturm zu entfachen, den nur ein zweites Feuer löschen kann!
LG,
Elvira
Eine wunderbare Bildsprache, liebe Elvira. Ich danke Dir! ☺
Very good publication.
Thank you very much! ☺
Toll geschrieben. Hatten kürzlich Klassentreffen. Es war ähnlich. Dir noch einen schönen Sonntagabend. L.G. Ludger
Ach ja … Klassentreffen sind auch so ein Thema, nöch?! ;o)
…manchmal frage ich mich auch nach dem „Damals“. Doch viel öfters träume ich davon – denke ich zumindest. Ob ich den Kontakt suchen würde ? Wohl eher nicht.
Ein gewisses „Risiko“, dass sich etwas verändert hat, besteht natürlich immer. Aber bis es eintritt … genieße es doch einfach, lieber Alex, hm?! ;o)
[…] wer ist sie heute ? […]
Ein wunderbarer Text, lieber Alex! Fragen über Fragen … und doch getragen von der zumindest scheinbaren Gewissheit, dass es schön sein könnte.
hmm, interessant.. erzähl weiter ;)
Nix da, privat ist privat! ;o)
na gut.. :)
Ich wusste, dass Du es verstehst! ;o)
Ich glaube, ich möchte meine Liebe von damals nicht treffen, denn ich bin nicht mehr die, die ich damals war. Vielleicht ist es gut, wenn alles in der Erinnerung bleibt.
Dennoch: Deine Geschichte gefällt mir sehr.
Die Erinnerung kann einem niemand mehr nehmen, liebe Gudrun. Ja, manchmal ist es vielleicht besser, es dabei zu belassen.
Wunderschön geschrieben, liebe Skryptoria.
Da bekomme ich Gänsehaut. Sooo schön.
Herzliche Grüße,
Martina
Dankeschön! Freut mich, dass es Dir gefällt! ☼
[…] ich massives Glück gehabt, dass sie DIESEN und DIESEN und DIESEN und DIESEN und DIESEN Beitrag NICHT auf sich bezogen hat? Habe ich da nicht […]