Hoffentlich nicht!
[Anmerkung vorweg: Die folgende Erzählung ist bereits einige Jahre her, jedoch nach wie vor präsent.]
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Der Morgen war wie immer … Verschlafen, Chaos im Badezimmer. Die Dusche erst zu kalt und dann zu heiß. Der Kaffee schneller auf dem Tisch als ich mit der Tasse hinterher kam. Dann schminken, anziehen … Anziehen … Verdammt! Jeden Morgen das gleiche Theater vor dem Kleiderschrank. Meine Wahl fiel auf eine helle Jeans. Dazu ein cremefarbener Pulli. Nicht zu figurbetont, weil ich ja schließlich ins Office musste. Beige Pumps dazu, Jeansjacke überziehen und ab.
Die erste Hürde des Tages war somit geschafft. Der Job lief zwar relativ ruhig aber dennoch mit viel Gebrassel verbunden. Mal wieder ohne Mittagspause machte ich wie fast immer später als sonst Feierabend und steuerte die U-Bahn an. Dort ließ ich mich auf einen freien Sitz fallen, nahm meine Zeitung aus der Tasche und fing an zu lesen. Nervös machte mich etwas, dass mich der Typ, der sich schräg gegenüber von mir hingesetzt hatte, ständig regelrecht anglotzte. Na ja, machte ja nix. Ich vertiefte mich einfach noch ein wenig mehr in meine Zeitung und ignorierte ihn.
An der nächsten Haltestelle leerte sich der Platz neben mir und blieb auch erstmal unbesetzt. Zwei Haltestellen weiter setzte sich der Typ von dem Platz schräg gegenüber plötzlich neben mich. Grundsätzlich betrachtet auch noch kein Grund, um unruhig zu werden. Auch dass er immer näher an mich ran rückte, machte mir zunächst nichts aus. Zunächst …
Der Typ stank. Nicht alkoholisiert, sondern schmutzig und durchgeschwitzt. Wenn er noch nach Alkohol gestunken hätte, hätte es die Sache allerdings auch nicht besser oder schlechter gemacht. Sein heller Trench war zu beiden Seiten aufgefallen und er rückte immer näher an mich ran. Die auf halbem Weg zwischen meinen Beinen und meinem Gesicht befindliche Zeitung klappte ich immer weiter zusammen und machte mich selber immer schmaler, um dem Typen irgendwie zu entgehen. Doch zwecklos. Ich war längst an der Wand der U-Bahn angekommen und er rückte immer näher. In mir machte sich Hilflosigkeit breit und die Frage, wie ich darauf reagieren soll. Ich sah ihn kurz an und bemerkte, dass er mich noch immer voll anstarrte. Er tat das also ganz bewusst.
Noch relativ ruhig forderte ich ihn auf, zurück auf seinen eigenen Sitz zu rutschen und mich in Ruhe zu lassen. Aber dazu machte er keinerlei Anstalten und fing stattdessen an, mir irgendwas Unverständliches ins Ohr zu flüstern. Gleichzeitig legte er eine seiner Hände auf mein Knie. Ich forderte ihn – diesmal lauter und für die andere Fahrgäste klar vernehmlich – auf, mich nicht anzufassen aber er murmelte weiter und seine Hand glitt langsam höher. In mir stieg Ekel auf und ich sah mich Hilfe suchend nach anderen Fahrgästen um. Es war späterer Feierabendverkehr und die Bahn war gut gefüllt.
Das – bisher für mich – Unglaubliche passierte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die anderen Fahrgäste gestarrt und gespannt verfolgt, was passieren würde. Klar ersichtlich war garantiert, dass er und ich kein Paar sein konnten. Doch in dem Moment, als ich meine die Blicke schweifen ließ, flogen die Köpfe herum und die Leute drehten sich weg. Alle. Ich sah plötzlich nur noch Rücken und Hinterköpfe.
Wie in einem Alptraum. Das konnte doch nicht wahr sein. Der Typ wanderte immer höher mit seiner Hand und ich schrie ihn an, dass er sofort seine Hände von mir nehmen und mich in Ruhe lassen solle.
Nicht ein einziger anderer Fahrgast machte auch nur die geringsten Anstalten, wenigstens mal auf diese Szene zuzukommen, um Präsenz zu signalisieren. Ich fühlte mich, als wäre ich mit dem Typen alleine auf der Welt. Er drängte sich immer mehr an/auf mich und sein Atem verschlug mir inzwischen den meinen. Unvermittelt sprang ich auf, brüllte ihn an, dass er sich von mir fern halten solle und es wäre auch kein Problem für mich, mit meinem Handy die Polizei zu rufen, wenn ihm meine Worte allein nicht deutlich genug sein sollte. Der Typ murmelte etwas von „wie kann man nur so böse sein“ und als die Bahn gerade in diesem Moment an der nächsten Haltestelle die Türen öffnete verschwand er ungehindert. Ich fiel auf den Sitz gegenüber und war platt.
Betretenes Schweigen in der Bahn …
Niemand sagte etwas …
Zunächst …
Plötzlich fing eine der Frauen an, laut loszupredigen, dass das ja wohl unglaublich gewesen sei … Keiner der Männer wäre eingeschritten und die arme junge Frau (ich wohl) musste sich ganz alleine wehren etc. etc. etc. Andere Frauen stimmten in das geheuchelte Klagelied lauthals ein, die in diesem Wagenteil befindlichen Männer drehten sich allesamt weg oder verließen an der nächsten Haltestelle die Bahn.
Ich sagte kein Wort mehr dazu. Nur die Überlegung in mir, was ich nun ekelhafter fand: Den Typen oder diese – nach meinem momentanen Empfinden – aufgespielte Empörung einiger Frauen, die ebenso untätig zugesehen hatten, hielt mich davon ab, vor Wut loszuheulen. Ich sah einfach nur aus dem Fenster und hoffte, bald an meiner Haltestelle zu sein, um diese Bahn zu verlassen.
Was wäre geschehen, wenn nicht ich, sondern eine Frau mit nicht so großer Klappe sein Opfer gewesen wäre … eine Frau mit weniger Selbstbewusstsein? Ich war weder aufreizend gekleidet, noch süße 12, 15 oder 17 Jahre alt. Daran konnte es also auch nicht gelegen haben. Und dennoch hat es ihn von nichts abgehalten. Hätte das geneigte Publikum – ja, das IST Sarkassmus! – auch einfach tatenlos zugesehen, wenn er mich direkt in der Bahn „richtig“ vergewaltigt hätte? Oh Gott, was muss, wenn ich mir mein momentanes, emotionales Chaos betrachte, erst in Frauen vorgehen, die „richtig“ vergewaltigt wurden? Mir graut vor dem Gedanken …
An meiner Haltestelle angekommen verließ ich fluchtartig die Bahn und rannte fast nach Hause. Ich wollte nur noch dringend mit jemandem reden, dem ich vertrauen konnte. Auf den Schritten zu meiner Wohnung quälte mich mehr und mehr der Gedanke, dass ich nichts getan habe, um den Typen der Polizei zu übergeben. Ich fühlte mich angeekelt, schmutzig und hilflos. Und je mehr ich über eine Personenbeschreibung nachdachte, desto weniger fiel mir dazu ein. Er hatte großlockige dunkle Haare und stank. Reichte das? Wohl kaum. Er trug einen hellen Trench und eine dunkle, irgendwie gemusterte Hose. Aber das war’s dann auch schon, was ich zur Person sagen könnte. Die großen, starrenden Augen sehe ich noch immer vor mir aber ich könnte nicht einmal sagen, welche Farbe sie hatten. Und Fingerabdrücke von einer Jeans? Keine Ahnung, ob das geht …
Ich bin auch, Stunden später, während des Schreibens, nicht in der Lage, den Typen genauer zu beschreiben. Deshalb hatte ich ursprünglich angefangen zu schreiben … eine BE-schreibung hinkriegen … die Polizei anrufen … Zwei Bahnen fahren bis zu mir. Ich weiß nicht einmal mehr, welche der beiden es war. Jede diesbezügliche Angabe wäre reine Spekulation und eine genaue Uhrzeit könnte ich auch nicht nennen. Was also sollte ich der Polizei sagen? Was ist das bloß für ein Chaos in mir? Ich heule mir die Augen aus dem Kopf vor Wut und Ekel, fühle mich einfach nur hundselend. Meine Mom hatte ich telefonisch erreicht und das Gespräch mit ihr tat sehr gut … hatte mich etwas beruhigt.
Ein derartiges Verhalten, sich anderen Menschen dergestalt aufzudrängen, halte ich persönlich schlichtweg für Veranlagung. Mir graut bei dem Gedanken, dass er von niemandem, auch von mir nicht, am Verschwinden gehindert wurde und ich hoffe inständig, morgen der Tagespresse nicht entnehmen zu müssen, dass ich zwar davon gekommen bin, es dafür aber jemand anderen erwischt hat …
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P.S. Zwei Bemerkungen seien mir dazu gestattet.
An eventuell beobachtende Frauen:
Auch wenn Frauen einem Mann, was die körperliche Kraft betrifft, sicher in vielen Fällen unterlegen sind, sind sie dennoch gemeinsam stark. Es hätte mit Sicherheit ausgereicht, wenn ein oder zwei Frauen sich mir einfach zur Seite gestellt hätten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Typ dann weiter an mir herum gegrabbelt und sich mir, durch seinen an mich gedrängten Körper mit Stimme, Atem und Gestank noch zusätzlich, aufgezwungen hätte.
An eventuell so veranlagte Männer:
Nein! Das ist nicht schmeichelhaft. Es ist einfach nur widerlich und zum Kotzen. Es hat nichts mit Angebot zu tun und ist auch in keiner Weise entschuldbar. Es ist einfach nur verdammte Scheiße!
© marmonemi [08/02] / skriptum
Ach meine Liebe, auch wenn es „damals“ war, wo dir das passiert ist, würde ich dich auch heute noch tröstend in den Arm nehmen. – Du könntest 100 und mehr Prozent sicher sein, wenn ich in der Bahn gewesen wäre, wir wären zwei gegen einen gewesen, ich mische mich schon bei weitaus geringeren Anlässen ein.
Haben die Menschen Angst vor Zivilcourage oder finden sie es einfach nur amüsant, dabei zuzusehen?
Ich grüße dich ganz lieb!
Ich habe keine Ahnung, liebe CC, war für eine seltsame Form von „Spaß“ Beobachter dabei empfinden. Das sind vermutlich die gleichen, die noch kräftig nachkarten, nachdem jemand längst am Boden liegt. Bsp. Kachelmann, Jackson etc.
Ob solche Typen noch unfallfrei an einem Spiegel vorbei kommen? Nein, ich möchte es lieber gar nicht wissen …
Ja – die liebe Realität. Genau solche Männer/Frauen hängen mir zum Halse heraus. Tatenlos zusehen und hinterher die tollen Reden schwingen.
Für Tatenlosigkeit gibt es keine Entschuldigung, aber „früher“ gipfelte es maximal in eine kleine Schlägerei. Heute allerdings zücken ja schon 14jährige Messer und Pistolen… Ich glaube, vielen schwebt so etwas im Kopf herum und sie würden gerne helfen, trauen sich aber nicht.
Die Tatenlosigkeit war wirklich schlimm, lieber Wortman. Aber die Quatscherei hinterher war erst der richtige Schlag ins Gesicht. Zwar „nur“ symbolisch aber nicht weniger schmerzhaft bis demütigend.
Allein auf Schläger zuzurennen … nein, so wagemutig wäre ich auch nicht. Aber es gab vor ein paar Jahren eine Situation in einer U-Bahn-Station: Ich sah jeden Abend einen bestimmten Mann. Wir haben nie miteinander geredet aber wir grüßten uns mittlerweile durch Kopfnicken. Eines Abends kamen ein paar Keineahnungwasse und pöbelten einen Behinderten an, der still und friedlich auf einer der Bänke saß. Der Mann und ich sahen uns an, nickten kurz und gingen dann direkt auf die Situation zu. Zack, waren die Typen weg. Wir hatten nichts gesagt oder getan. Nur drauf zu und „Flagge zeigen“; Demonstrieren, dass der Angepöbelte nicht allein ist. Das hatte offensichtlich bereits gereicht.
Manchmal ist nicht viel notwendig, um zu helfen.
Präsenz reicht manchmal schon aus – wie du eben sagtest, einfach hingehen ist manchmal schon Abschreckung.
So ein Gelaber hinterher… wäre man nicht selbst wahrscheinlich so geschockt – tippe mal, hättest der ersten Frau wahrscheinliche eine runter gehauen ;)
Ich war ehrlich gesagt in erster Linie in diesem Zwist, was mich mehr schockt: Der Typ oder die Sprüche der Untätigen …
Ja, in dieser Gesellschaft sind Zivilcourage und Solidarität abhanden gekommen.
Solche Typen sind gestört und weiden sich an der Angst der Frauen. Starke Frauen sind ihnen nicht geheuer.
Jede Frau ist gut beraten, einen Selbstverteidigungskurs zu belegen. Dort wird in o.g. Situation folgendes geraten:
Einfach aufstehen und gehen. Wenn er dir folgt, so weit wie möglich herankommen lassen, umdrehen und mit dem Knie in voller Wucht zwischen die Beine. Das wirkt!
Lieben Gruß … Eva
Wenn wir beide uns vorher theoretisch über eine solche Situation unterhalten hätten, wäre genau das meine Behauptung gewesen: Aufspringen und weg.
Aber, liebe Eva, so blöd sich das anhören mag: Es ging nicht. Heute kann ich nicht einmal mehr sagen warum. Ich Weiß nur noch, dass ich (zunächst) nicht weg konnte. Und das sicher nicht, weil ich angegrabbelt werden wollte.
Ich bin ja so eine Positivistin ;) Also überlegte ich, was es an dieser Situation an Positivem gab. Ja, da gab es etwas: Sollte mir jemals eine Situation begegnen, in der ich das Gefühl habe, dass ein Mädchen oder eine Frau bedrängt wird, würde ich sicher nicht wegsehen, sondern direkt darauf zu steuern und fragen, ob sie Hilfe braucht.
Immerhin das ist dabei an Gutem heraus gekommen.
Es hätte vielleicht genügt, als Außenstehende den Typen fest ins Auge zu fassen, das Handy deutlich sichtbar in die Hand zu nehmen und zu drohen: „Wenn du nicht augenblicklich deine Wichsgriffel von der Frau lässt, dann rufe ich die Polizei!“ Dazu wären weder körperliche Kraft noch ein größeres Maß an Schneid erforderlich gewesen…
Es ist mittlerweile Brauch und Sitte hierzulande, stets den Anderen die Verantwortung und Initiative zu zu schieben: „Mach‘ du mal, mich geht das nix an.“ Kein Wunder, dass unser Land den Bach ‚runter geht…
Auch da kann ich Dir leider nur zustimmen, liebe Freidenkerin. Vermutlich müssen diejenigen erst selbst in eine so demütigende und bedrohlich wirkende Situation geraten, bevor sie es kapieren.
Und ehrlich gesagt wünsche ich denjenigen, dass die größte Demütigung die ist, dass sie eben nicht von den Umstehenden allein gelassen wurden. Hoffentlich erinnern sie sich dann an ihre eigene Untätigkeit.
Als Mißbrauchsopfer kann ich nachvollziehen, wie es in dir ausgesehen hat, immer noch aussieht. So was beschmutzt die Seele, und auch, wenn man sich, wie in meinem Falle, erfolgreich therapieren lässt, wird man den ekelerregenden und schmutzbehafteten Schatten bis zum Ende seiner Tage nicht wieder los…
*Drück-und-Umärmel*
Herzliche Grüße!
Dass ein solches Erlebnis die Seele beschmutzt finde ich ausgesprochen treffend formuliert, liebe Freidenkerin. Danke fürs Drücken! *re-drück