Im Anschluss an die Kommentare zu meinem Beitrag „Sitzplätze? Immer gern genommen!“ fiel mir eine weitere Begebenheit von vor ein paar Jahren ein, die ich auch recht bemerkenswert fand:
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Feierabend. Ich saß in der U-Bahn und wollte, total erledigt, nur noch nach Hause! Da ich derzeit im Anzeiger Hochhaus gearbeitet hatte, was mitten in der Innenstadt liegt, füllte sich die Bahn immer recht schnell. Ich stieg in den Zug und fand sogar noch einen freien Sitzplatz. Nachdem ich geplatzt war, schloss ich die Augen und hoffte einfach, so schnell wie möglich an meiner Ziel-Haltestelle anzukommen. Plötzliches Gemotze ließ mich jedoch meine Augen wieder öffnen und kurz prüfen, wer es für wichtig hielt, seinem Unmut in so lauter und anmaßender Weise Luft zu machen. Die Umschreibung „kurz“ war dann allerdings relativ. Es ging mal wieder um einen Sitzplatz. Klar; worum sonst?!
Eine ältere Dame hatte sich schräg gegenüber von mir vor einem jungen Mann aufgebaut, der auf einem als solchem ausgewiesenen Behindertenplatz saß. Der junge Mann hatte auf seinem Körper alles aufbringen lassen, was im Zusammenhang mit Piercings und Tattoos genannt werden kann. Sozusagen ein wandelndes Bilderbuch mit Nadelkissen-Flair. Geschmackssache. Ich mag zahlreiche Tattoos, wenn sie gut gemacht sind. Piercings mag ich nur bedingt. Bis heute fehlt mir jedwedes Verständnis dafür, wie man auf die Idee kommen kann, sich sein Gesicht an Brauen, Lippen, Nase oder sonst wo freiwillig verstümmeln zu lassen. Aber ich muss es ja zum Glück weder tun noch verstehen.
Die ältere Frau bekam sich gar nicht mehr ein. In Anbetracht der Tatsache, dass ihr die Beleidigungen und Anmaßungen kaum auszugehen schienen, die allesamt den jungen Mann auf „ihrem“ Platz zum Ziel hatten, war es schwer, den Eindruck zu bekommen, dass es sich um ein ältliches hilfloses Mütterchen handeln könnte. Der junge Mann kommentierte keine der ihn bombardierenden Gemeinheiten, was die ältere Dame nur noch mehr in Fahrt brachte. Sie hatte längst den Behinderten-Platz mir gegenüber eingenommen, hielt aber nach wie vor nicht damit hinterm sprichwörtlichen Berg, um was für ein Dreckspack es sich bei dem jungen Mann handeln würde. Es wäre der Gipfel der Unverschämtheit, dass er einer gebrechlichen alten Dame nicht sofort seinen Platz zur Verfügung stellte, obgleich er auf einem Behindertenplatz sitzen würde.
Der junge Mann schwieg weiterhin und ich begann ihn zu bewundern. Ab irgendeinem Punkt hätte ich diese Tiraden nicht mehr über mich ergehen lassen und mich zumindest mit unmissverständlichem Gesichtsausdruck vor der älteren Dame aufgebaut. Aber er blieb ganz ruhig sitzen und kommentierte lange Zeit keine einzige der ihn treffenden Bemerkungen. Ich weiß nicht mehr, welche der unsäglichen Beleidigungen es seitens der alten Dame war, die den Bilderbuch-Mann dann doch dazu verleitete, in die Innentasche seiner Jacke zu fassen. [Klammheimlich hatte ich gehofft, dass er eine Knarre zieht, aber das würde ich hier natürlich niemals schreiben! ;)]
Ganz ruhig, ganz sachte, zog er etwas heraus, stöberte kurz darin und beugte sich dann in Richtung der älteren Dame mit den sinngemäßen Worten
„Hier ist mein Behindertenausweis. Seit einem Unfall bin ich zu X % schwerbehindert und ich darf nicht nur, sondern ich muss auf diesem Platz sitzen. Darf ich jetzt bitte mal Ihren Behindertenausweis sehen?“
Die ältere Dame war nicht nur blitzartig still, sondern erbleichte zudem in einer Geschwindigkeit, die mich gedanklich bereits nach meinem Handy suchen ließ, um den Notarzt zu rufen. Die erneut, höflich und sehr ruhig vorgebrachte Bitte des jungen Mannes, den Behindertenausweis der alten Dame sehen zu möchten, quittierte diese mit einer schnippischen „Kopp in Nacken“-Geste und dem schweigend-starren Blick aus dem Fenster. In der U-Bahn. Allzu aufregend kann das, was sie da gesehen hat, nicht gewesen sein. Aber immerhin hatte sich mal wieder jemand in der Öffentlichkeit nicht nur bis auf die Knochen blamiert, sondern dafür gesorgt, dass es immer weniger Freude bereitet, einem anderen Menschen den Platz anzubieten. Es ist doch ZU interessant, was alles passieren kann, wenn man es nicht tut.
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P.S. Selbstverständlich räume ich meinen Platz nicht nur weiterhin, sondern auch sofort, wenn ein Mensch, der gebrechlicher wirkt als ich, die Bahn betritt! Aber: Freiwillig; und dann auch gern! Als mal ein junges Mädchen mit Gipsbein und sehr unglücklichem Gesichtsausdruck einstieg, habe ich mir auch keinen Zacken aus der Krone gebrochen, als ich ihr meinen Platz überließ. Wenn mir aber jemand unverschämt kommt, dann bleibe ich garantiert sitzen. Denn beim Räumen eines Sitzplatzes handelt es sich um eine Höflichkeit bis Gefälligkeit, nicht um eine Verpflichtung. Jeder, der ein reguläres Ticket besitzt, hat Anspruch auf einen Sitzplatz, sofern einer frei ist. Und zwar in jedem Alter!
P.S.2 Natürlich handelt es sich bei der beschriebenen „Dame“ um eine Ausnahme! Üblicherweise wissen sich Menschen zu benehmen. Und Hannoveraner sind sowieso per se höflich und zuvorkommend; klar doch. Die da oben muss von außerhalb gekommen sein! ;) Das sind dann aber meist genau diejenigen, die sich am lautesten darüber aufregen, dass die heutigen Jugendlichen kein Benehmen haben. Aber wie auch, wenn manche der heutigen Älterlichen mit solchen „Beispielen“ voran gehen …
Ein sehr gutes Beispiel. Der junge Mann hat meinen Respekt. Seine Reaktion war genau richtig.
off topic: Da bot doch mal ein älterer Herr einer sehr jungen Dame in der Straßenbahn an, sich auf seinen Schoß zu setzen. Er sei ja ein sehr alter Herr, also habe er keine Hintergedanken.
Nach ein paar Minuten bat er sie, wieder aufzustehen mit der Bemerkung „Ich bin wohl doch noch nicht so alt wie ich dachte“ :-)
;o)) Bei der Szene hätte ich mich vermutlich auf den Boden geschmissen vor lachen! *gg
Noch so ein paar Geschichten und ich bekomme vor lachen
Erstickungsanfälle.
Oh, das will ja kein Mensch. Na gut, dann schreibe ich jetzt erstmal nur noch über ernste Themen! ;)
Ich bin angesprochen, ein Mann liefert immer eine Frau in diesen Dingen. Selbst wenn der Mann ist gebrochen.
Ich finde nicht, dass das Geschlecht wichtig ist. Wenn jemand wirklich einen Platz braucht, dann soll er ihn auch bekommen. Egal ob Mann oder Frau, Junge oder Mädchen.
Es ist erschreckend, wie vernagelt manche Leute sind und das OHNE gepierct zu sein. Das ist ihm bestimmt nicht zu ersten Mal passiert. Wetten?
Ich nehme auch an, dass er die Nummer schon ein paar Mal hinter sich gebracht hat.
Jeder, der „anders“ aussieht als Mr. Normalo, wird doch gleich abgestempelt.
Ich treffe z.B. öfters mal mit den sogenannten Gruftis zusammen, und anfangs fand ich es auch eher befremdlich, bis ich feststellte, daß das ne totel nette Fraktion ist, die einen wirklich so nimmt, wie man ist.
Vor dem Tatoo-Herren kann ich nur den Hut ziehen, ich hätte es wohl nicht geschafft, so lange so ruhig zu bleiben. ;-)
Und ich sehe es genauso: wenn ich aufstehe und jemandem Platz mache, dann mache ich es gerne, um jemand anderen einen Gefallen zu tun. Und nicht, weil irgendwer mit dazu zwingen will. Da kann ich dann mächtig stur sein…
Das ist vermutlich die ganz natürliche Skepsis vor Anderem. Aber nur weil jemand/etwas anders ist, muss er/es ja nicht schlecht oder böse sein.
Wenn er das wirklich schon mehrfach erlebt hat, dann sein ihm die heimliche Freude auf das Finale mehr als gegönnt! ;))
Oh wie herrlich! Manche Leute können sich eben nicht benehmen und nur weil sie „alt“ sind haben sie noch lange nicht das Recht unverschämt zu werden!
Schade oder ein Glück … so was bekomme ich sehr selten mit, da ich fast nie mit den Öffentlichen unterwegs bin! ;-)
LG :-)
Tja, das ist dann doch wohl ein klares Argument FÜR Öffis, hm? ;)
Genau wie Lucie sagt, Alter giebt noch lange kein Recht unverschämt zu sein.
Hut ab vor den jungen Mann. Das hat er sehr gut gemacht.
Sicher ist ihm das schon öfters passiert.
Liebe Grüsse
Elke
Ich glaube auch, dass er mit der Bewältigung einer solchen Situation schon „Übung“ hatte.