„Hallo, schön Dich zu sehen. Setz Dich … Ich möchte Dir gern etwas erzählen.
Da war dieser Mann. Er saß mir gegenüber. Ich kann es Dir kaum erklären. Mein Blick wollte sich nicht mehr von ihm abwenden. Er saß einfach still und hatte so einen Stöpsel im Ohr. Klassik. Es war eindeutig Klassik was er hörte. Das passte so gar nicht zu ihm. Ich meine, zu seinem Erscheinungsbild. Er hatte einen hellbraunen, ausgeleierten Pullover an, dessen Ärmel aus denen der Jacke hervor lugten. Um den Hals hatte er einen riesigen Schal gewickelt, der eher die Funktion eines völlig überdimensionierten Rollkragens einnahm. Dazu trug er eine schwarze, sehr schmuddelige Hose. Nicht wirklich dreckig … eher staubig … fusselig. Na, Du weißt schon.
Die Jacke. Sie war ziemlich sicher wesentlich älter als er selber. Du kennst doch diese alten Uniform-Jacken. Die zweireihigen mit großen silberfarbenen Knöpfen. Eine solche Jacke trug er. Sie ging schon aus allen Nähten. Das helle Innenfutter bahnte sich längst an mehreren Stellen durch Risse seinen Weg aus der Jacke. Aber irgendwie machte dieser Mann den Eindruck, sehr stolz zu sein, gerade diese Jacke tragen zu dürfen.
Wie seine Hände aussahen?
Die Hände waren schmuddelig doch seine Fingernägel sehr gepflegt und sauber. Er schien auf sein Äußeres zu achten, so gut es eben ging. Das war nicht viel aber für ihn sicher doch. Er versteckte seine Hände auch nicht, was darauf schließen lässt, dass er „sich“ nicht versteckt. Obgleich seine Ausstrahlung irgend etwas von Flucht … vielleicht auch Resignation … hatte.
Seine Haare waren ordentlich geschnitten und die in Sorgenfalten gelegte Stirn wurde durch keines von ihnen verdeckt. Seine Augen. Du hättest seine Augen sehen sollen. Sie waren grün oder braun. Ich hatte den Eindruck, dass die Farbe je nach Lichteinfluss sekündlich wechselte. Es war irgendwie faszinierend. Und doch… Die Augen hatten eine ganz eigene Sprache. Eine Sprache, die überall verstanden wird. Verstanden, sobald jemand bereit ist, „zuzuhören“.
Diese Augen …
Was hatten sie schon alles gesehen?
Sie machten einen besorgten … glücklichen … verzweifelten Eindruck. Sie sagten mir, dass sie bereits so vieles gesehen hatten, dass kaum mehr Platz für Weiteres vorhanden ist. Sie zeigten eine Seele. Die Seele dieses Mannes. Wie ein offenes Buch. Ihr Ausdruck war unheimlich und doch waren die Geschichten, die aus ihnen heraus zu lesen waren, so interessant, dass es keinerlei weiterer Worte bedurfte. Man brauchte nur hinzusehen und kannte Geschichten, von denen man noch nie zuvor gehört hatte. Ohne, dass dieser Mann auch nur ein einziges Wort darüber verlor.
Worte …
Der Mund dieses Mannes. Ein Mund, der deutlich zeigte, dass er zu töten bereit war, um endlich wieder etwas essen zu dürfen. Trinken. Egal was. Nein, nein, der Mann machte ganz und gar nicht den Eindruck, ein Penner oder Alkoholiker zu sein. Nein, das war es nicht.
Welchen Eindruck sonst?
Gute Frage.
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Vielleicht einsam. Sicher verarmt. Vom Leben gebeutelt. Irgendwie weiter machend. Durchhaltend. Noch da seiend und sich doch sonst wohin wünschend.
Ob ich ihn angesprochen habe?
Nein, das hätte ich niemals tun können …
Kennst Du das Gefühl, auf jemanden zu treffen, der Dich durch seine bloße Anwesenheit lähmt? Hier war es so.
Ich sah ihn an. Ich schaute in seine Augen. Ich musterte seine Hülle und ich hatte das Gefühl, tief in sein Innerstes blicken zu können. Und doch war er absolut unnahbar. Eine unheimliche Mischung von „alles und nichts“, wie ich das nie zuvor erlebt hatte.
Ob er vielleicht ein Kriegsveteran war?
Nein, ganz bestimmt nicht …
Ich schätze, er war höchstens Mitte zwanzig.“
© skriptum
Gut beobachtete Momentaufnahme. Intensiv und intim beschrieben….Eine Szene, wie sie täglich passiert und dennoch bleibt sie für die meisten Menschen unsichtbar.
Vielen Dank! Ja, oftmals ist man so in Hektik und mit sich selbst beschäftigt, dass solche „Highlights“ völlig an einem vorbei gehen. Leider!
Ausgezeichnet geschrieben. Fesselnd, einfühlsam und auch traurig. So habe ich empfunden.
Irgendwie war es auch traurig, ja. Aber in erster Linie fand ich ihn einfach faszinierend.
Es gibt solche Menschen, die sowohl wie ein offenes Buch als auch völlig unergründlich sind. Jung und dennoch steinalt. Sanft und trotzdem grausam…
Da kannst Du vermutlich noch Hundert weitere (an sich) widersprüchliche Attribute aufführen; sie wären doch alle irgendwie passend.
Toll ‚gesehen‘ und beschrieben. Tut es dir nicht leid, dass du nicht mit ihm sprechen konntest? Ich glaube, ich würde noch tagelang darüber nachdenken.
Ich denke mittlerweile seit Jahren darüber nach. Und ich hoffe nach wie vor, dass es ihm gut geht.
Ja, es tut mir leid, dass ich ihn nicht einfach unter irgendeinem Vorwand angesprochen habe. Andererseits hätte das auch ernüchternd sein können. So ist er wie ein Mythos, wie etwas sehr Geheimnisvolles, das ich nie ergründen werde.
Irgendwie ist es schön, so wie es ist.
Großartig!
Du hast sehr traurig und einfühlsam geschrieben.
Es gibt Menschen, die haben eine wahnsinnige Ausstrahlung. Auch wenn man kein Wort mit ihnen wechselt, bleiben sie in Erinnerung.
Nachdenklich bin ich über diese Situation noch heute. Ja, dieses „Treffen“ ist nun ca. sieben Jahre her und dennoch ist es nach wie vor präsent, als wenn es gestern gewesen wäre.
Wunderbar hast du diesen Mann gezeichnet, ein offenes Buch, für alle lesbar und doch unergründlich. Ich liebe solche Momentaufnahmen.
Danke, liebe Anna-Lena. Ja, Deine Worte treffen es auf den Punkt!
man hat ein bild vor den augen.
vielleicht war sein äußerse bewusst so gewählt ? nicht betont edel aber bedeutungsvoll. keine äußeren werte die zählen mehr die inneren – das fällt mir gerade zu seiner jacke ein.
Mit das Tollste an dieser Begegnung fand ich, dass sie Spielraum für Tausende von Spekulationen ließ. Allerdings nur im positiven Sinne. Für Negatives ist da gar kein Platz.
Schön, dass es Dir auch so geht.
Beim Lesen dieser wundervollen Menschen-Beschreibung fällt mir eine andere Begegnung in der S-Bahn ein. Mir gegenüber saß eine sehr hübsche Frau um die 30, die ein riesengroßes, sehr augefallen geformtes Feuermal im Gesicht hatte, das aussah, als flösse es aus dem Auge raus. Neben ihr ein Bekannter, vielleicht nicht unbedingt der Freund. Sie machte den Eindruck, als wenn sie dieses Mal nicht hätte – nur ich war es, die mich nicht traute, sie anzuschauen, damit es nicht nach neugierigem Starren aussieht.
Ich hätte mich auch so gern mit ihr unterhalten, natürlich nicht in der S-Bahn, aber es wäre mir natürlich zudringlich erschienen, denn ich bin keine Journalistin.
Jemanden höflich in ein Gespräch zu verwickeln hat doch aber nichts mit Journalismus bzw. Ausfragen o. ä. zu tun, liebe CC.
Davon abgesehen: Ich auch nicht. Mehr noch! Ich bin in Anbetracht der Entwicklungen auf dem Medienmarkt stolz darauf, niemals einen Presseausweis besessen zu haben. Ich möchte kein ausgewiesenes Mitglied der „Journallie“ sein …
Auch heute, Jahre später, denke ich: Wenn ich ihn nochmal sehen soll wird der Spruch zutreffen, dass man sich immer zweimal im Leben sieht. Nur zu anderen Bedingungen. Wer weiß, wann Du Deine hübsche Frau nochmal siehst …